Orson Hyde – Ein Ruf aus der Wüste (1842)


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Viertes Kapitel.

Ueber die von der Kirche „Latter Day Saints“ als anerkannt
unterzeichneten Glaubens - Artikel und Lehr - Punkte, die aus jenen
heiligen Schriften ausgezogen worden, welche in unserm Besitze sind.


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      Um den Wünschen mehrerer Tausenden von Freun-
den in England und Amerika zu willfahren, habe ich
mit fröhlichem Muthe den Entschluß gefaßt, dem deut-
schen Publikum eine klare und kurze Darstellung unserer
Grundsätze zu geben, mit dem festen Glauben, daß sie
gewiß den Beifall jener haben werden, denen ich die
Ehre habe sie vorzustellen. Möchten sie die Arbeit ihres
demüthigen Dieners gehörig würdigen, und von seinen
Bemühungen einige Belehrungen erndten, die gleich
Saamen, in gutes Erdreich gestreut, gedeihen.
      Nachdem ich als ein dienstthuendes Glied eine ge-
wichtige und verantwortliche Stelle in unserer Kirche
seit mehreren Jahren begleitet habe, so habe ich nicht
nur allein Gelegenheit gehabt, mich vollkommen mit
ihren Grundsätzen bekannt zu machen, sondern meine
Pflichtentledigung hat mir auch die unerläßliche Be-
dinguiß gesetzt, mich mit allen ihren Vorschriften und
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ihrer Regierungsart vertraut zu machen. Ich hoffe
deßhalb, daß ich fähig sein werde, dem innigsten
Wunsche meines Herzens durch dieß Erzeugniß Genüge
zu leisten, nämlich: dem Herrn zu gefallen, sollte ich
auch die Freundschaft der Menschen dabei verlieren.

——«·»——

Erster Artikel.
Ueber die Gottheit.

      Jeder, der da unternehmen wollte, eine vollstän-
dige Erklärung über das wunderbare und geheimnißvolle
Dasein der Gottheit zu geben, der würde nur seine
Schwäche und seine Thorheit an den Tag legen. Wenn
wir das weite Reich der Natur überblicken, was sehen
wir da, das wir völlig begreifen könnten? Nichts!
Wenn nun die Natur jenen seinen Plan, nach welchem
sie ihre großen Maschinerien treibt, so künstlich unserm
Auge verborgen hat, was müssen wir nun von jenem
Wesen denken, dessen Stimme der Natur ihr Dasein
gab, und alle ihre Theile mit Leben und Bewegung
füllte!?
      Obgleich wir die Gottheit nicht völlig begreifen
können, so sind doch in der heiligen Schrift verschiedene
allgemeine Anzeichen, welche es uns möglich machen,
einige Züge ihres Charakters zu entdecken. Und ver-
mittelst dieser Quellen aus denen wir Belehrungen schö-
pfen können, ist uns folgendes Resultat durch unsere
Untersuchung geworden.
      Es sind zwei Personen, die da die große Unver-
gleichbarkeit ausmachen, die höchste, regierende Gewalt
über alle Dinge, durch welche alles erschaffen ist, Sicht-
bares und Unsichtbares, sei es im Himmel, auf der
Erde oder unter und in derselben oder in der Unermeß-
lichkeit des Raumes. Diese beiden sind der Vater und
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der Sohn. Der Vater ist eine geistige Person voll von
Herrlichkeit und Macht, und im Besitze aller Voll-
kommenheit. Der Sohn, der ewig in der Gegenwart
des Vaters war, trägt sein vollkommenes Ebenbild
und
theilt alle seine Glorie, Macht und Vollkommenheit.
Der Mensch ward erschaffen nach dem Bilde der Aehn-
lichkeit dieser zwei Personen, und trägt deßhalb in sei-
nen Gott ähnlichen Zügen die Sinnbilder der Macht
und Herrschaft, und ward an die Spitze aller erschaffe-
nen Wesen gestellt. Aber wie elendiglich ist der Mensch
von Gott abgewichen! Und wie viele werden noch durch
ihr unwürdiges Betragen dieses edle himmlische Bild
entehren, welches zu tragen sie gewürdiget worden sind!
      Der Sohn nahm einen menschlichen Leib in den
Schoose der gesegneten Jungfrau an, nachdem er in
Reinheit von dem heiligen Geiste empfangen worden
war.
Er wurde in diese Welt geboren in Mitte der
Jubeltöne der englischen Sängern, die ihre Stimmen
zu den höchsten Noten anschwellten um Lob und Ehre
dem Fürsten Bethlehems zu geben. »Ehre sei Gott in
»der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die ei-
»nes guten Willens sind.« So lautete der Chor der
Sänger. Diesem himmlischen Besucher, dem Sohne
des höchsten Gottes, wurden die Sünden der Welt auf-
erlegt. Sanftmüthig, unterworfen den Widersprüchen
der Sünder durchwandelte Er Sein wirkendes Leben
unter Bekanntmachung des Willens Seines himmlischen
Vaters, und unter Gutesthun an dem Leibe und an
der Seele, des Menschen bis es zuletzt den Erdenkindern
gefiel, Ihn für Seine Wohlthaten vor einen weltlichen
Richterstuhl zu schleppen, wo Er ungerechter Weise
verdammt und höchst grausam am Kreuze hingeopfert
wurde.
      Aber nun geht er entkörpert hin zu den Geistern
der Menschen, die lange in der Vorhalle weilten – Er
überschreitet die Gränzen ihrer finstern Wohnung –
macht ihnen das Evangelium kund – öffnet den müden
Gefangenen die Thore ihres Kerkers, und befiehlt ihren
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Thränen, nicht mehr zu fließen. O ihr Ungläubigen,
die ihr nicht bereutet bei der Predigt Noa's; euere
Leiden waren eurer Ungläubigkeit angemessen; doch jetzt
ist ein Freund zu eurer Hilfe gekommen!
      Am dritten Tage erstund Er von dem Tode, und
nachdem Er noch viele Belehrungen Seinen Jüngern
gegeben hatte, stieg Er hinauf in Seine Heimath, mit
sich bringend zu dem himmlischen Hofe die reiche Beute
des Sieges über Tod, Grab und Hölle. Dort nahm
Er Seinen Sitz zur Rechten des Vaters und ist nun
unser Mittler und Advokat geworden; denn durch Sei-
nen Tod und durch Seine Vermittlung kann der Mensch
gerettet werden, wenn er Seinen Geboten gehorcht und
sich unbefleckt erhält von der Welt. Durch diesen Mann
soll ein gerechtes Gericht kommen über alles Fleisch,
denn Er besitzt denselben Willen wie der Vater, und
dieser Wille ist der heilige Geist
, welcher der ausübende
Geschäftsträger des Vaters und des Sohnes ist. Er
ist ein glorreicher Bote der Wahrheit und des Trostes,
fortgesandt von dem Vater durch den Sohn in die Her-
zen aller jener, die da aufrecht vor Ihm wandeln; und
diese Drei, nämlich: der Vater, der Sohn und der
heilige Geist sind Eins
. Deßhalb sollen alle jene, die
Seine Gebote halten, von Gnade zu Gnade steigen, Er-
ben des Reiches Gottes und Miterben Jesu Christi wer-
den. Je mehr sie sich Gott nähern durch Gehorsam,
desto mehr werden sie von ihrem eigenen Willen verlieren
und von demjenigen des Herrn oder des heiligen Geistes
empfangen. Sie werden wieder umgewandelt werden zu
Seinem Bilde, und zu Seiner Aehnlichkeit mit Ihm,
Der alles in allem füllt und werden Eins sein mit dem
Sohne, wie der Sohn Eins ist mit dem Vater. O
Menschen, wer immer ihr auch sein möget, betrachtet
wohl, was in euer Bereich gegeben ist. Heftet die Neig-
ungen euers Herzens nicht an gemeine und nutzlose
Dinge, sondern gedenkt der hohen Bestimmung, welche
aller jener wartet, die die Tugend zu ihrer Gefährtin,
und ihr Heil zum Ziel ihrer Bemühungen machen.

      Die Lehren über die Gottheit bilden einen zentralen Bestandteil der Lehre der Kirche. Deshalb sind sie in unserer Betrachtung sehr wichtig. Historiker und Kritiker sagen, die Gotteslehre habe sich in den ersten fünfzehn Jahren vom Monotheismus zum Polytheismus entwickelt. Obwohl im Buch Mormon (d.h. im Original von 1830) nur von einem Gott die Rede ist und die Dreieinigkeit unter den Mitgliedern anerkannt wurde, war noch zu Lebzeiten Joseph Smiths von drei Personen der Gottheit die Rede, und heute glaubt die Kirche an eine unendliche Anzahl von Göttern.

      Welche Auffassung finden wir in diesem Werk aus der Mitte dieser Entwicklungsperiode? Die Gottheit bestehe aus zwei Personen – Vater und Sohn. Das steht zunächst nicht im direkten Widerspruch zur heutigen Lehre, jedoch klingt es bereits etwas merkwürdig. Daß der heilige Geist der Wille von Vater und Sohn sei, zeigt hingegen deutlich den Unterschied zur heutigen Lehrmeinung, da ein Wille unmöglich eine Person sein kann. Demzufolge ist die durchgängige Kleinschreibung auch kein Fehler, sondern volle Absicht. Die Dreieinigkeit wird ebenfalls in einer so deutlichen Klarheit bestätigt, daß selbst heutige Interpretation mit dieser Stelle ihre Schwierigkeiten haben dürfte. Dieses Buch bestätigt die Entwicklung des Gottesbildes, wie sie von Kritikern der Kirche vorgetragen wird.

      Daß der Sohn ewig in der Gegenwart des Vaters war und sein exaktes Ebenbild ist, ist noch heute in der (tiefen) Kirchenlehre verankert.

      Jesu Empfängnis wird ebenfalls anders dargestellt. Hier ist noch die Rede von der Empfängnis durch den heiligen Geist (dem Willen von Vater und Sohn). Heute wird von der Überschattung durch den Heiligen Geist (einer Person) und dem darauf folgenden körperlichen Akt durch den Vater gesprochen.


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