8. Mai 2001
Dies ist ein Bericht über einen Ausflug zum Tempel, der vor kurzem stattgefunden hat:
zwei Frauen und drei Männer haben in einem der großen Tempel der Heiligen der
Letzten Tage an einer Endowmentsession teilgenommen. Das wäre nichts Ungewöhnliches,
wenn, ja wenn diese Leute treue Mormonen wären. (Nur ein Mormone in gutem Stand bei
den örtlichen Autoritäten darf an der Endowmentzeremonie teilnehmen.) Von dieser
Gruppe war allerdings keiner ein glaubenstreuer Mormone. Einer der Männer ist zwar auf
dem Papier noch Mitglied der Kirche (der Mormonen), aber die anderen vier haben die Kirche
offiziell verlassen, und alle fünf gelten bei den Mormonen als Abtrünnige.
Wie und warum haben sie nun diesen Ausflug unternommen? Es versteht sich wohl von selbst,
dass die Identität dieser Personen sowie einige Details ihres Abenteuers vertraulich
bleiben müssen. Ich kann dem Leser allerdings versichern, dass die Geschichte wahr ist
und dass bis auf die fiktiven Namen der Teilnehmer alles authentisch ist.
Ich will diesen abtrünnigen Tempelbesuchern fiktive Namen geben, damit ich die Geschichte
leichter erzählen kann: Jack, Joe, Bob, Jane und Alice.
Jack war für die Mormonen auf Mission; er hat sehr viel Humor, er ist furchtlos und
furchterregend ein Draufgänger. Er hat sich die Sache ausgedacht und geprüft,
ob sie überhaupt machbar war.
Joe, auch auf Mission gewesen, ist auf dem Papier noch Mitglied, aber längst nicht mehr
gläubig.
Bob hat dem Mormonismus vor vielen Jahren den Rücken gekehrt; ihn interessierte es
einfach, die heutige Zeremonie zu erleben, da sie sich seit dem letzten Mal, als er sie als
gläubiger Mormone erlebte, doch sehr verändert hat: die blutigen Strafen und Eide
gibt es nicht mehr, es tritt kein protestantischer Geistlicher mehr als Untergebener des
Satans mehr auf und das Ganze wird zum größten Teil per Film und Tonbandaufnahme
vorgeführt es ist also alles ziemlich anders als die Zeremonie, die er kannte.
Jane, aktive Exmormonin, hatte das Endowment in ihrer Mormonenzeit nicht mitgemacht. Sie wollte
es einmal erleben, da ihre Eltern noch gläubige Mormonen sind und regelmäßig
in den Tempel gehen.
Alice ging, als sie noch Mormonin war, regelmäßig in den Tempel, fühlte sich
dort aber nie so ganz wohl, da sie nie den Geist verspürte, wie man ihn dort eigentlich
spüren sollte. Jedenfalls sagen die Mormonen das. Sie hatte immer das Gefühl, sie
käme nicht ganz mit.
Jack, Bob und Jane sind zur Zeit mit Nichtmormonen verheiratet; Joe und Alice sind geschieden
und alleinstehend.
Wie kam es, dass diese Gruppe früherer Mormonen so etwas tat? Das ist durchaus eine
legitime Frage, die auch in der Gruppe selbst erörtert wurde. Zunächst gab es
sicher Gründe, so etwas
nicht zu tun. Der Tempel und seine Rituale sind den Mormonen
sehr heilig (außerdem sind sie geheim), und die Mormonen ergreifen alle möglichen
Maßnahmen, um den Tempel dem Blick der Öffentlichkeit fernzuhalten. In gewissem
Sinn hatte die Gruppe also vor zumindest aus Sicht der Mormonen in heilige
Bereiche vorzudringen und sie zu entweihen. Ein weiterer Grund, es nicht zu tun, war die
Möglichkeit, erwischt zu werden. Ein Mormonentempel wird schließlich von der
mormonischen Privatpolizei in Zivil (den Sicherheitskräften) bewacht.
Manche der persönlichen Gründe der Beteiligten wurden bereits genannt. Als Gruppe
wollten sie sich natürlich in gewisser Hinsicht auch einfach einen Schabernack erlauben
und den Mormonen eins auswischen. Aber es steckte noch mehr dahinter. Die Mormonen
glauben daran, dass Gott ihren Tempel beschützt, dass Böses (wie zum
Beispiel abtrünnige Exmormonen) dort nicht eindringen kann, dass diejenigen, die im
Tempel amtieren, eine ungewöhnliche Macht der Erkenntnis haben und, dank der
Eingebungen des Heiligen Geistes, jeden Anwesenden erkennen, der nicht wirklich würdig
ist. In der mormonischen Folklore gibt es reichlich solche Geschichten, in denen häufig
erzählt wird, wie eine Gruppe von Heiligen im Tempel versammelt war und mit der Zeremonie
beginnen wollte und der Amtierende feierlich verkündete, es sei jemand anwesend, der
unwürdig sei, daran teilzunehmen, so dass die Zeremonie erst weitergehen könne,
wenn der Betreffende gegangen sei. Natürlich schlich dann immer irgendjemand beschämt
und leise von dannen, nachdem er so kraft göttlicher Inspiration entlarvt worden war.
Gott kann man schließlich nicht reinlegen, oder?
Einer der wichtigsten Gründe war der, dass geprüft (eigentlich bewiesen) werden
sollte (schließlich wusste man Bescheid) ob der Geist der Erkenntnis einen
ertappt. Offensichtlich war Gott an dem Tag gerade anderswo und nicht in seinem Tempel.
Der Tempel, den sie für dieses Abenteuer auswählten, war einer der neueren Tempel;
er steht in einer amerikanischen Großstadt. Er hatte viele der Einrichtungen, die den
meisten kleineren Tempeln fehlen: Cafeteria, Mietkleidung, Informationszentrum und Laden.
Außerdem fangen den ganzen Tag lang bis in den Abend hinein häufig neue
Endowmentsessionen an.
Um Zulass zu einem Mormonentempel zu erhalten, muss man einen Tempelschein
vorweisen, eine Art Ausweis, der ein Jahr lang gültig ist und vom örtlichen
Mormonenbischof (Pastor) ausgestellt und vom Pfahlpräsidenten (dem Vorgesetzten des
Bischofs) gegengezeichnet wird. Nur sehr würdige Mormonen erhalten einen solchen
Tempelschein. Dazu müssen sie eine Unterredung über sich ergehen lassen, in der
ihre Glaubensstärke und ihr Gehorsam gegenüber den Geboten und Praktiken der
Kirche überprüft wird. Schätzungen zufolge haben nicht einmal zehn Prozent
der Mitglieder der Kirche einen gültigen Tempelschein. Die Beschaffung eines
Tempelscheins für jeden in der Gruppe war also die erste größere Hürde,
die es zu überwinden galt.
Jack gelang es, dieses Problem zu lösen. Wie er das genau gemacht hat, muss vertraulich
bleiben, aber es gab keinen Diebstahl und keinen Betrug oder andere illegale Methoden. Es
gelang ihm, für jeden in der Gruppe einen gültigen, authentischen Blanko-Tempelschein
zu besorgen.
Am Abend bevor die Gruppe in den Tempel ging, traf sie sich in dem Motel, wo diejenigen,
die von außerhalb angereist waren, übernachteten. Jetzt füllten sie die
Tempelscheine aus. Manche verwendeten ihren richtigen Namen, andere einen fiktiven. Die
Unterschrift des Bischofs und des Pfahlpräsidenten leisteten
sie füreinander. Dabei verwendeten sie teilweise den korrekten Namen von tatsächlich
existierenden Bischöfen und Pfahlpräsidenten (aus einer kirchlichen Telefonliste
abgeschrieben) und teilweise fiktive Namen. Mehrere der Männer baten die Frauen in der
Gruppe, als Bischof bzw. Pfahlpräsident zu unterschreiben. Da
Mormonenfrauen niemals ein solches Amt innehaben, war dies ein weiterer Test für die
Gabe der Erkenntnis.
Am nächsten Morgen fuhr die Gruppe gemeinsam zum Tempel. Sie gingen allein bzw. paarweise
hinein, um nicht aufzufallen. Keiner hatte am Eingang Schwierigkeiten. Die Tempelscheine
wurden von dem freundlichen älteren Tempelarbeiter, der einen jeden mit einem leisen
Gruß und einem Lächeln willkommen hieß, überprüft. Jeder wurde
von einem der vielen Tempelarbeiter ordnungsgemäß zu den Umkleideräumen
für Männer und Frauen getrennt geführt. Die männlichen
Tempelarbeiter trugen einen weißen Anzug, die Frauen ein langärmliges,
hochgeschlossenes weißes Kleid. Überall standen sie mit einem Lächeln im
Gesicht, um den Besuchern des Tempels, die zur Endowmentsession kamen, zu helfen.
Da fast keiner in der Gruppe die passende Tempelkleidung besaß, hielten sie zunächst
an dem Schalter an, wo sie die nötigen Sachen ausleihen konnten. Die Komplettausstattung
kostete $ 2,50.
Eine Sorge war, dass keiner der Beteiligten das heilige Garment als
Unterwäsche trug. Jeder tempelwürdige Mormone trägt diese spezielle
Unterwäsche ständig, und jeder im Tempel, der solche Unterwäsche nicht
trug (außer ein Mormone, der für sein eigenes Endowment kam), musste doch
sofort als Eindringling erkannt werden. Es stellte sich heraus, dass dies kein Problem
war. Niemandem fiel auf, dass sie das heilige Garment nicht trugen.
Jeder in der Exmormonengruppe begab sich in den entsprechenden Umkleideraum und zog die
weiße Kleidung an (Hose, Hemd, Krawatte, Socken und Schuhe für die Männer;
bodenlanges Kleid (langärmlig, hochgeschlossen), Strümpfe und Schuhe für
die Frauen) und ging an die Stelle, wo die Namen der Verstorbenen ausgegeben werden,
für die die Tempelbesucher stellvertretend das Endowment erhalten. Dann begaben sie
sich in die Kapelle. Dabei trugen sie ein kleines Bündel unter dem Arm: Schürze,
Schärpe und Schleier (für die Frauen), Kappe (für die Männer). Sie
setzten sich und warteten ab, bis die Anwesenden zum Beginn der eigentlichen Endowmentzeremonie
aufgerufen wurden.
Eine ältere Tempelarbeiterin setzte sich vorn in der Kapelle an die Orgel und begann,
etwas zu spielen, was sicher auf den Geist einstimmen sollte. Das tat es leider
nicht. Die arme Schwester hätte man niemals in die Nähe einer Orgel lassen
dürfen. Jede zweite Note war falsch und sie hatte nicht die geringste Ahnung davon,
wie man Orgel spielt. Es war also eine Qual.
Die Gruppe wartete also geduldig darauf, in den eigentlichen Tempel geleitet zu werden. Der
Amtierende betrat schließlich die Kapelle und fragte leise Joe und Alice (von der
Exmo-Gruppe), ob sie für die Session als Zeugen fungieren wollten. Das Paar,
das als Zeugen fungiert, muss an mehreren Stellen während des Rituals nach vorn kommen
und am Altar des Tempels niederknien stellvertretend für alle Anwesenden. Es ist
eine besondere Ehre, wenn ein Ehepaar darum gebeten wird, dieses Zeugenpaar zu
sein. Zumindest handelt es sich meist um ein Ehepaar. (Joe und Alice sind nicht miteinander
verheiratet.) Sie erklärten sich aber bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Jane war
daraufhin ein bisschen durcheinander, weil sie noch nie an einer Endowmentsession teilgenommen
hatte und darauf hoffte, dass Alice bei ihr blieb und sie davon abhielt, etwas falsch zu machen.
Das Zeugenpaar sitzt allerdings immer ganz vorn in der ersten Reihe.
Für Jane erwies sich das trotzdem nicht als Problem, da die Tempelarbeiter daran
gewöhnt sind, dass die Besucher mit den Ritualen nicht so vertraut sind. Sie helfen
immer bereitwillig, wenn jemand gerade nicht weiß, was er tun oder sagen soll.
An der Session nahmen rund dreißig Personen teil, etwa zwei Drittel von ihnen Frauen.
Der Amtierende geleitete sie in den Sessionsraum. Die beiden Zeugen saßen vorn in der
ersten Reihe, die Männer auf der rechten Seite des Raums, die Frauen auf der linken.
Es hätten zweimal so viele Personen in den Raum gepasst.
Die Endowmentsession begann. Der Amtierende stand vorn am Altar, und eine Tonbandaufnahme
wurde abgespielt. Er sagte nichts selbst, sondern fungierte praktisch als Roboter (der
Text der gesamten Zeremonie ist hier vorhanden). Im
passenden Moment begann der Film und damit eins der heiligsten Erlebnisse für jeden
Mormonen.
Die Exmos hatten keine Probleme. Jane band ihre Schärpe nicht richtig. Sie hatte die
Schleife vorn, statt an der Seite, aber es fiel niemandem auf. Als die Anwesenden aufgefordert
wurden, alles, was sie hatten, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu
weihen, sagten die Exmos nicht ja wie die anderen, aber das fiel keinem auf.
Als der Kreis für die wahre Ordnung des Betens gebildet wurde, trug Jack
seine Schuhe nicht, als er zum Altar ging, aber auch das fiel niemandem auf. Als Alice
während des Gebetskreises anfing zu kichern (auf die Bitte um Segen für
unseren Propheten, Gordon B. Hinckley hin) und Joe damit zu kämpfen hatte,
nicht laut loszulachen, bemerkte niemand etwas. Als Jane dann durch den Schleier
ging, fielen ihr die heiligen Passwörter nicht so recht ein, und die Tempelarbeiterin
musste sie ihr vorsagen, aber auch das fiel nicht auf.
Es fiel auch niemandem auf, dass keiner aus der Gruppe die vorgeschriebene Unterwäsche,
das Garment, trug wobei die beiden Frauen überhaupt keine
Unterwäsche trugen.
Niemandem fiel auf, dass auf dem Tempelschein, den Jack vorlegte, keine Gültigkeitsdauer
angegeben war.
Kein Zeichen, dass der Geist der Erkenntnis die Tempelarbeiter davor warnte, dass
Beauftragte des Satans (ihre Terminologie) sich an dem heiligen Ort befanden.
Nach der Endowmentsession, als die Gruppe sich bereits wieder umgezogen hatte, traf man sich
auf dem Parkplatz. Jack kam ein bisschen später, weil er noch den Tempelpräsidenten
in dessen Büro aufgesucht hatte, um ihm ein paar Fragen zu stellen. (Jack, dies nur
nebenbei, sieht wie ein typischer Mormonenbischof aus.) Der Tempelpräsident hieß
ihn willkommen und beantwortete die meisten seiner Fragen bereitwillig. Jack erfuhr von ihm,
dass die Zahl der Tempelbesucher tatsächlich niedrig ist. Außerdem bestätigte
der Tempelpräsident, dass der Tempel bereits seit einiger Zeit gezwungen war, Namen
mehrfach zu verwenden, dass also für ein und denselben Verstorbenen das Endowment
mehrfach vollzogen wurde, weil einfach nicht genügend Namen von Verstorbenen vorlagen.
Und das, obwohl solche Arbeit völlig unnötig ist und eigentlich ein Betrug, da ja
der glaubenstreue Mormone meint, er verhelfe da irgendeinem Verstorbenen zu himmlischer
Herrlichkeit, auch wenn diese Eintrittskarte bereits von jemand anderem gekauft und bezahlt
worden war.
Der Tempelpräsident erklärte außerdem stolz, es gebe ein Programm, mit dem die
Besucherzahlen gehoben werden sollen: jeder Mormone, der an einem Tag an drei Endowmentsessionen
teilnimmt, erhält in der Cafeteria des Tempels ein kostenloses Mittagessen. Wie erfolgreich
dieses Programm war, sagte er allerdings nicht.
Außer den bereits geäußerten Schlussfolgerungen dazu, was dieses Experiment
über die Heiligkeit eines Mormonentempels aussagt, und abgesehen von der Empörung,
die die Mormonen angesichts dessen empfinden werden, weil diese Personen erfolgreich in die
heiligen Gemäuer eingedrungen sind, muss sich doch jeder Mormone verwirrt eine weitere
Frage stellen: diese fünf Personen haben jeder für einen Verstorbenen das Ritual
vollzogen. Die fünf Verstorbenen sind jetzt in den Kirchenbüchern mit
Endowment eingetragen, also des celestialen Reichs würdig. Sollten die Mormonen
das Endowment nun als gültig betrachten? Oder ist es ungültig (da von
Unwürdigen vollzogen)?
Die Gruppe war der Ansicht, sie hätten sowohl die gemeinsame Absicht als auch ihre
persönlichen Absichten erreicht. Alice meinte anschließend, es habe ihr immer
zu schaffen gemacht, dass sie, wenn sie als glaubenstreue Mormonin in den Tempel gegangen
war, nicht mitkam. Dieses Erlebnis hatte ihr sehr deutlich gezeigt, dass die
glaubenstreuen Mormonen, die im Endowmentraum im Tempel sitzen, nicht mitkommen:
sie kapieren nicht, dass der gesamte Hokuspokus sinnlos und ein Schwindel ist.
Jane war besonders froh darüber, dass sie die Zeremonie zum ersten Mal erlebt hatte.
Es machte sie sehr traurig, wenn sie daran dachte, dass ihre Eltern so etwas noch glauben
konnten. Ganz besonders traurig war sie an dem Punkt, wo Adam und Eva in die einsame
und öde Welt ausgestoßen werden und sie daran denken musste, dass die
Mormonen (wie ihre Eltern) diese wundervolle Welt so negativ, als Fluch, betrachten.
Bob staunte über die vielen Änderungen in der Zeremonie und meinte, wenn er noch
Mormone wäre, hätte er sicher den Eindruck, die Änderungen seien ein Zeichen
dafür, dass die heutige Kirche vom Glauben abgefallen sei.
Alle Teilnehmer stimmten darin überein, dass sie froh waren, dass sich ihnen diese
Gelegenheit geboten hatte. Manche meinten sogar, es sei ein erhebendes Erlebnis gewesen
allerdings zweifellos nicht im orthodoxen mormonischen Sinn.