Die liberalen Mitglieder


Es ist eigentlich nur schwer vorstellbar, aber es gibt sie wirklich. Und es sind nicht wenige, sogar viel mehr, als sich die meisten das in einer so totalitären Organisation vorstellen können. Deshalb möchte ich hier etwas Licht auf diese Gruppe werfen.

Liberal sind Mitglieder, die aus Überzeugung nicht auf der von Salt Lake vorgegebenen Schiene fahren, sondern sich die Freiheit nehmen, ihren Glauben und ihre Ansichten selbst zu entwickeln und dem nachzufolgen, aus der Erkenntnis heraus, daß die Dinge nicht so liegen, wie sie offiziell von der Kirche verkündet werden. Für diese Verhaltensweise gibt es die verschiedensten Ursachen. Man kann davon ausgehen, daß das Menschen sind, die es einfach nicht übers Herz bringen, sich von der Kirche oder ihrer Weltanschauung grundlegend zu trennen. Anlaß dafür kann z.B. die starke familiäre Einbindung in die Kirche sein. Allgemein herrscht die Auffassung, daß die Organisation gute Ansätze hat, was auch in meinen Augen zweifellos so ist. Viele wollen diese Ansätze ausbauen und die Kirche dahin verändern, also gegen den Hauptstrom ankämpfen. Dabei glauben einige noch immer an die Wahrheit gewisser Teile des Glaubensgerüstes der Kirche, zumindest in ihrer eigenen Definition. Die meisten bleiben lange Zeit aktiv in der Kirche.
Fazit: Es handelt sich hier also um eine bunte Mischung von nachdenkenden Menschen, die aus irgend einem Grunde innerhalb der Kirche an der Verbesserung des Systems arbeiten.

Ihre Unauffälligkeit hat zwei hauptsächliche Ursachen. Zuerst einmal arbeiten diese Mitglieder gegen die offizielle Kirchenpolitik des absoluten und alleinigen Wahrheitsanspruches, somit müssen sie wie Oppositionelle arbeiten, also heimlich, was hier aber nicht konspirativ gemeint ist, da es keine Organisation und Planung gibt. Einen größeren Ausschlag scheint zweitens zu haben, daß es sich hier um intellektuelle Menschen handelt, die anderen ihre Illusionen nicht nehmen möchten und deshalb ihre Meinung meist für sich behalten, wenn sie nicht ausdrücklich danach gefragt werden. So erlebt man in der Kirche fast nie die Äußerung einer liberalen Meinung, was leicht den Eindruck erweckt, alle seien von der Wahrheit der Kirche - à la Salt Lake Generalkonferenzen - uneingeschränkt überzeugt. Dabei spielen diese Liberalen innerhalb der Kirche eine viel größere Rolle in der Entwicklung und Anpassung der Kirche als all die 'braven' Mitglieder.

Die Größe dieser Gruppe läßt sich nicht einmal annähernd abschätzen. Einziger Anhaltspunkt ist hier die Etablierung von Sprachrohren dieser sonst so zurückhaltenden und unorganisierten Gruppe. In den Vereinigten Staaten gibt es zwei größere Zeitschriften, Suntone und Dialogue. Selbst im deutschsprachigen Raum hatte sich eine kleine Zeitschrift angesiedelt. Betrachtungen fristete natürlich bei nur etwa 50.000 Mitgliedern ein kärgliches Dasein im Schatten des Stern. Wer dort jedoch eine offene Diskussionsrunde um die Ansprüche und Werte der Kirche - wie auf dieser Seite - erwartet, wird sicher enttäuscht. Der Ansatz, ein totalitäres Regime diplomatisch zur Kursänderung zu bewegen, ist lobenswert doch aussichtslos. Eine wirklich objektive Auseinandersetzung mit der Realität wäre wahrscheinlich das Aus für eine so kleine Zeitschrift wie Betrachtungen, da die Ansichten liberaler Mormonen schon im Grundsatz sehr weit auseinander gehen.

Die Mentalität des Individuums ist letztendlich entscheidend dafür, welchen Weg es bei Erkenntnisgewinn einschlägt. Für mich kam eine liberale Position in der Kirche nicht in Frage. Einmal mit dem Wissen ausgestattet, daß die Kirche ihrem absoluten Wahrheitsanspruch nicht gerecht wird, gab es für mich nur noch eine Konsequenz. Ich genieße das wirklich freie unabhängige Denken ohne den Zwang einer vorgegebenen Struktur oder die Angst, etwas zu verlieren. Ich denke nicht, daß man diese Freiheit innerhalb der Kirche erfahren kann; so viele Freiräume man sich auch einräumt, der äußere Druck bleibt bestehen. Gefahr besteht allerdings nur darin, daß man die ursprünglichen Ziele und Ansprüche umdefiniert und so einen ganz anderen Glauben hat, als es nach außen hin erscheint; eine Verantwortung vor anderen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, die man erst einmal auf sich nehmen muß.

Ich persönlich trage es niemandem nach, ein liberaler Mormone zu sein, aber trotzdem rate ich aus Gründen der Konsequenz von einem Wechsel in dieses Lager dringend ab, auch wenn das der einfachere Weg zu sein scheint. Gleichzeitig möchte ich alle liberalen Mitglieder ermahnen, ihre Überzeugung wenigstens offen zu vertreten, nicht nur hinter vorgehaltener Hand, und so den Eindruck eines 'braven' Mormonen zu erwecken. Die Gruppe der Liberalen ist viel größer als allgemein angenommen. Um zum Guten hin zu verändern, muß man auch zu seiner Überzeugung stehen und sich nicht von Sprücheklopfern einschüchtern lassen.


Hier möchte ich noch Auszüge einer Email wiedergeben, die ich 1997 von einem liberalen Mitglied bekommen habe.

"Hallo [Name],
[...] Ich habe schon viele Sachen hier gefunden, die ich aus den verschiedensten Quellen und vor allem durch Anstrengen meines eigenen Gripses herausgefunden habe. Du hast recht: vieles an der Lehre der LDS ist bedenklich. Die Konsequenz, die Du für Dich aus den Zweifeln gezogen hast, kann ich vollständig nachvollziehen. Für mich selbst kommt sie nicht in Frage, denn für mich spielen J.S. oder das, was die heutigen oder gewesenen GAs auf den Generalkonferenzen sagen bzw. gesagt haben, keine große Rolle und haben es auch noch nie getan. Ich war 5 Jahre sehr aktiv in der Kirche in meinem Zweig in [Ort] (2.Ratgeber, Finanzsekretär usw. usw.). Dabei habe ich mich ständig an den von Dir beschriebenen engstirnigen, ja bornierten "200% Mitgliedern" gerieben und vor allem das hat mir Spaß gemacht. Mir hat es Freude bereitet, mit ihnen über diese Dinge zu streiten und zu sehen, wie sie immer wieder den kürzeren gezogen haben. Bestärkt wurde ich in meiner kritischen Haltung vom Zweigpräsidenten, der zwar überzeugt, doch immer kritisch war. (Er ist z.B. Freimaurer und läßt sich auch von niemandem abhalten, weiter aktiv als Freimaurer zu sein.) Wir beide haben unsere Gemeinde als "handbuchlose" Gemeinde betrieben und jeden dazu angehalten, selbst zu denken (was natürlich immer wieder ergebnislose Bemühungen der "Oberen" zur Folge hatte). Die konsequente Weigerung, die "Monatsmeldungen" abzugeben, brachte [größerer Ort] und Frankfurt und sogar SLC zur Weißglut :-) Vor über zwei Jahren bin ich in die Schar der "Inaktiven" übergewechselt, nachdem man nach der Vereinigung des Distrikts [größerer Ort] mit dem Ami-Militär-Pfahl [größerer Ort] durchgreifen wollte, denn ich lasse mir einfach nicht das Denken verbieten. Sicherlich magst Du Dich fragen, warum ich immer noch Mitglied bin und dann ausgerechnet noch [...] nach [neuer Ort] ziehe. [Neuer Ort] ist eine tolle Stadt zum Studieren ... deswegen bin ich hier. Warum ich noch Mitglied bin?
1. Wenn man etwas verändern will, muß man das von innen machen (und ich habe schon zwei Garnituren Heimlehrer und mehrere Sätze Missionare zum Denken gebracht, zumindest zum Denken angeregt).
2. Die Freundlichkeit und echtes Interesse an meiner Person (um nicht zu sagen: die Liebe) die mir innerhalb der Kirche entgegengebracht wurden, habe ich bei den vielen anderen Aktivitäten, die ich in meinem Leben schon gemacht habe, sonst nirgendwo erfahren.
3. Ich denke mir die Sachen, die mir nicht passen, einfach weg (frei nach dem Satz : "Prüfe alles und nimm nur das Gute").
4. Ich denke, daß ich wirklich mit Gott sprechen kann. Er hört mir zu und ich denke auch, daß er mir im Leben schon den einen oder anderen Ratschlag gegeben hat. (Bin ich deswegen vielleicht sogar ein Prophet ? :-)
Ich möchte mich den vielen Briefen, die Du schon bekommen hast, in einem Punkt anschließen: ich möchte Dir mein Zeugnis geben: Klar, es gibt einen Gott, er ist an mir und an allen Menschen interessiert, es ist ihm egal, ob und welcher Kirche ich angehöre, sondern er sieht auf meine Taten. Ich glaube, daß die Naturgesetze, die unser Weltall und seine Entstehung bedingen, nicht zufällig sind (dafür sind sie einfach zu lückenlos). Ob Gott die Naturgesetze geschaffen hat oder sie älter sind als er (sie?), ist nicht relevant. Was "gut" ist, steht nicht in Büchern, sondern definiert sich aus der Logik (siehe Kant). Das Ziel des Menschen ist es, glücklich zu sein und deshalb auch andere glücklich zu machen. Das Ziel des Menschen ist es also, ein "guter" Mensch zu sein. Aber das für sich selbst und nicht, um Gott zu gefallen oder wegen irgend einer Belohnung nach dem Tod. Die Menschen sind nur dem freien Spiel der Naturgesetze unterworfen und dem eigenen Willen, sonst nichts und niemanden. Die Bibel und das BM usw. sind Schriften, die Menschen verfaßt haben und die die Meinung der Autoren wiedergeben. Einige von den Autoren hatten einen "guten Draht" zu Gott und andere eben gar keinen. Ergo, relevant können sie nur als Denkanregung sein. Ja, es gibt Menschen, mit denen Gott spricht, nur die meisten hören nicht zu. Lasse dich vom Grundziel des Menschen leiten und du wirst nie etwas "falsch" machen, weder im Urteil des denkenden Teils der Menschheit noch im Urteil "jenes höheren Wesens, das wir verehren" (Bur-Malottke in Dr. Murkes gesammelten Schweigen von Böll). Es gibt keine "wahre" Kirche, weil alle nur Menschenwerk sind. Aber es ist auch nichts Schlechtes dran, wenn man sich mit Gleich- oder Entgegengesinnten austauscht."

Hier wird der Denkansatz sehr schön dargestellt, auch wenn nicht alle liberalen Mitglieder so weit gehen oder damit übereinstimmen würden. Klar ist: Es gibt sie, sie sitzen auf lokaler Ebene auch schon mal in Führungspositionen und sie wollen die Kirche verändern, indem sie trotz ihrer Erkenntnis Mitglieder bleiben.


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